Diese unsichtbaren Fäden sind ein Geflecht aus Geschichten, Regeln, Normen, Konventionen, Erwartungen und weben sich so selbstverständlich in unseren Alltag, dass wir sie für unsere eigenen Überzeugungen halten.
In uns angelegt werden sie von klein auf durch unsere Eltern, Schule, Freundeskreis, Medien, so dass wir oft gar nicht merken, wie sehr sie unser Denken, Fühlen und Handeln formen.
Doch was, wenn ein Teil dessen, was wir für „uns“ halten, in Wahrheit das Erbe unserer kulturellen Prägung ist?
Was, wenn Entscheidungen, Träume oder sogar Konflikte nicht allein aus unserem innersten Wesen kommen, sondern aus Mustern, die wir unbewusst übernommen haben?
Kulturelle Prägung zu erkennen, ist wie den Vorhang zu lüften und einen Blick hinter die Kulissen unseres eigenen Lebens zu werfen. Es ist der erste Schritt zu echter Eigenverantwortung und Selbstführung – zu einem Leben, das nicht von automatischen Reaktionen, sondern von bewussten Entscheidungen getragen wird.
WAS BEDEUTET KULTURELLE PRÄGUNG
Kulturelle Prägung umfasst all die Erfahrungen, Werte und Normen, die uns von Geburt an begleiten und im Laufe unseres Lebens unbewusst formen. Sie entsteht nicht nur durch die Kultur im engeren Sinne – also Sprache, Traditionen oder Bräuche – sondern auch durch die Denkweisen unserer Familie, die Strukturen im Bildungssystem, die Erwartungen im Berufsleben und die subtilen Botschaften, die wir aus Medien, Werbung und sozialen Netzwerken aufnehmen.
Man könnte sagen: Unsere kulturelle Prägung ist wie ein unsichtbarer Code, der in unserem Inneren mitläuft. Er beeinflusst, wie wir uns selbst sehen, wie wir mit anderen in Beziehung treten und welche Möglichkeiten wir im Leben überhaupt in Betracht ziehen. Manche dieser Prägungen sind wertvoll und stützend – sie geben uns Orientierung, Halt und Zugehörigkeit. Andere hingegen können uns einschränken, indem sie uns unbewusst auf Rollen, Verhaltensweisen oder Sichtweisen festlegen, die nicht (mehr) zu uns passen.
WIE KULTURELLE PRÄGUNG UNSERE WAHRNEHMUNG FORMT
Kulturelle Prägung wirkt wie eine unsichtbare Brille, durch die wir auf die Welt schauen. Diese Brille filtert, was wir wahrnehmen, und färbt unsere Interpretation von Ereignissen, Menschen und Situationen.
- Unser Selbstbild: Wir bewerten uns selbst oft nach Maßstäben, die wir nicht hinterfragt haben – zum Beispiel nach beruflichem Erfolg, äußerer Leistung oder gesellschaftlicher Anerkennung.
- Unser Bild von anderen: Wir interpretieren Verhalten und Entscheidungen anderer durch den Filter unserer eigenen Werte und Normen – was in einer Kultur als höflich gilt, kann in einer anderen als distanziert wahrgenommen werden.
- Unser Weltbild: Wir halten bestimmte Lebensmodelle, Arbeitsweisen oder Familienstrukturen für selbstverständlich und empfinden alles Abweichende zunächst als ungewöhnlich oder fremd.
Das Entscheidende: Diese Brille ist uns so vertraut, dass wir meist gar nicht merken, dass wir sie tragen. Erst wenn wir beginnen, sie bewusst wahrzunehmen, können wir entscheiden, ob sie uns dient oder ob es Zeit ist, neue Perspektiven zuzulassen.
ERSTE ANZEICHEN ERKENNEN
Der Weg zu Eigenverantwortung und Selbstführung beginnt damit, sich der eigenen kulturellen Prägung bewusst zu werden. Doch wie erkennt man etwas, das so selbstverständlich erscheint wie die Luft, die wir atmen? Die folgenden Hinweise können erste Anzeichen sein – und laden gleichzeitig zur Selbstreflexion ein:
Automatische Gedankenmuster
Ertappst du dich bei Sätzen wie „So macht man das eben“ oder „Das gehört sich nicht“? Solche Formulierungen deuten oft auf erlernte Regeln hin, die aus der Kultur oder dem sozialen Umfeld stammen – nicht unbedingt aus deiner eigenen Überzeugung.
Beispiel: Du besuchst eine Veranstaltung und ziehst – ohne groß nachzudenken - „etwas Schickes“ an. weil du das so gelernt hast – auch wenn du dich in bequemer Kleidung wohler fühlen würdest. Nicht, weil du dich darin besonders wohlfühlst, sondern weil du gelernt hast: „Zu besonderen Anlässen kleidet man sich elegant.“
Erst wenn du innehältst und dich fragst: „Tue ich das wirklich für mich oder, weil man es so macht?“, beginnst du, den unsichtbaren Faden zu erkennen.
Unbehagen bei Andersartigkeit
Fühlst du dich unwohl, wenn jemand deutlich andere Werte lebt oder Entscheidungen trifft, die du selbst nie in Betracht ziehen würdest? Dieses Unbehagen ist oft ein Zeichen, dass dein eigenes Wertemuster hinterfragt wird.
Beispiel: Eine Kollegin kündigt ihren sicheren Job, um ein Jahr um die Welt zu reisen. Dein erster Gedanke ist: „Das ist doch verantwortungslos!“ Noch bevor du überhaupt ihre Beweggründe kennst.
Konflikte zwischen innerer Stimme und äußerem Erwartungsdruck
Spürst du einen inneren Impuls, etwas Bestimmtes zu tun – und gleichzeitig den Drang, es zu unterlassen, weil „man das nicht macht“? Hier kollidiert deine persönliche Intuition mit einem übernommenen Glaubenssatz.
Beispiel: Du möchtest während einer Familienfeier offen deine Meinung zu einem Thema sagen, hältst dich aber zurück, weil du gelernt hast, dass man älteren Familienmitgliedern nicht widerspricht.
Reaktionen, die wie automatisch ablaufen
Ob Kritik, Lob oder bestimmte Situationen – wenn deine Reaktion immer gleich ist, lohnt es sich zu fragen: Reagiere ich aus freier Entscheidung oder aus erlerntem Reflex?
Beispiel: Ihr Chef lobt deine Arbeit und du spielst es sofort herunter („War doch nichts Besonderes“), weil du gelernt hast, Bescheidenheit zu zeigen, statt Anerkennung anzunehmen.
Entscheidungen, die anderen gefallen sollen
Wenn du feststellst, dass du Pläne oder Lebensentscheidungen eher nach dem Wohlwollen anderer ausrichtest als nach dem, was du wirklich willst, könnte kulturelle Prägung der unsichtbare Einfluss sein.
Beispiel: Du nimmst eine Arbeitsstelle in der Nähe deiner Eltern an, obwohl du lieber in eine andere Stadt ziehen würden – einfach, weil deine Familie es so erwartet.